Warum ist der demografische Wandel Ihrer Meinung nach das drängendste Problem?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Die Babyboomer scheiden bald aus dem Arbeitsleben aus, der Jahrgang 1964 gehört zu den geburtenstärksten. Das ist aber keine schleichende Entwicklung. In wenigen Jahren ist die Zahl der aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Personen doppelt so hoch wie die Zahl der potenziell zur Verfügung Stehenden. Ein Problem, das sich schon jetzt immer mehr in vielen Branchen abzeichnet.
Dennoch ist bisher nichts getan worden, um diesen Trend positiv zu beeinflussen?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Das stimmt, leider! Vielleicht war bis heute der Leidensdruck vielerorts noch nicht groß genug. Aktuell können jedoch immer mehr Stellen nicht besetzt werden. Im öffentlichen Bereich scheiden bis zum Ende des Jahrzehnts 30 Prozent der Beschäftigten aus. Wir merken die Auswirkungen des Fachkräftemangels bereits jetzt an Schulen, in der öffentlichen Infrastruktur. Hier besteht sofortiger Handlungsbedarf, der keinen Aufschub duldet.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass rund 240.000 Fachkräfte bis 2026 fehlen werden. Als Gründe führt sie die Digitalisierung, die Demografie sowie kurz- und mittelfristige Folgen der Pandemie und des Ukrainekriegs an. Können Sie diese Einschätzung bestätigen?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Dem ist so. Problematisch ist, dass Deutschland keine Tradition bei der Einwanderung von Fachkräften hat. Es gab vor über zehn Jahren bereits das Thema BlueCard – ein Aufenthaltstitel für ausländische Spitzenkräfte. Letztlich sind darüber jedoch nicht einmal 100.000 Menschen nach Deutschland gekommen. Das sind Peanuts. Wir werden das Problem durch die Migration im Rahmen der Flüchtlingsbewegung nicht lösen können, denn es braucht dringend qualifizierte Arbeitskräfte. Und man kann nicht eine Generation warten, um Stellen zu besetzen.
Der deutschen Gesellschaft drohen 100 Milliarden Euro Wohlstandsverlust. Wie können Sie sich das erklären?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Unternehmen stehen vor der Situation steigen-der Energiekosten, steigender Arbeitskosten, finden aber keine Arbeitskräfte. Vielen Betrieben bleibt dann nur die Verlagerung ins Ausland. Wir werden erleben, dass ein Teil der Wirtschaft abwandert, ein weiterer Teil wird gar nicht mehr in der Lage sein zu produzieren. Dieser Prozess der Deindustrialisierung hat bereits begonnen.
Ist es eine Lösung, jungen Leuten eine Ausbildungsgarantie sowie bessere Vergütung anzubieten?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Wir müssen viele Bereiche neu denken. Das System der dualen Ausbildung – weltweit ein Aushängeschild – ist in Deutschland lange Jahre vernachlässigt worden. Aktuell gibt es mehr Studierende im Bereich Theaterwissenschaften als Auszubildende im Fliesenlegerhandwerk. Zielführend ist, die berufliche Ausbildung aufzuwerten. Darüber hinaus ist es wichtig, schon in der Schule − und damit sehr früh − anzufangen, Qualifizierungspfade zu entwickeln. Airbus in Bremen ist ein Beispiel. Airbus-Mitarbeitende gehen in die Schulen, um Schülerinnen und Schüler gleichermaßen für eine technische Ausbildung zu begeistern. Viele haben bei mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern Aversionen. Durch solche Begegnungen sehen sie, wie sie ihr Schulwissen in der Praxis anwenden können – und dass zum Beispiel Mathematik auch Spaß machen kann.
Ist es eine Lösung, auf die Zuwanderung von hoch qualifizierten Personen aus dem Ausland zu setzen?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Deutschland ist als Einwanderungsland nicht attraktiv, wir sind ein Hochsteuerland mit einer ab-schreckenden Bürokratie. Ein weiteres Problem ist die Hürde in puncto Anerkennung von Qualifikationen. Hier ist eine größere Flexibilität gefragt. Erste Schritte sind diesbezüglich bereits gemacht worden mit dem für 2023 anvisierten Punktesystem. Demnach sollen die Hürden nach bestimmten Auswahlkriterien wie Qualifikation oder Berufserfahrung für die Zuwanderung von Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern erleichtert werden. Das Punktesystem sollte in jedem Fall weiterentwickelt werden. Meiner Meinung nach sollte eine hoch qualifizierte Fachkraft nicht daran scheitern – wie bisher der Fall –, dass auch deutsche Sprachkenntnisse der Familie vorausgesetzt werden.
Sollte als eine weitere Option nicht auch die Lebensarbeitszeit verlängert werden?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Langfristig muss den Beschäftigten ermöglicht werden, flexibler zu arbeiten, flexibler in den Ruhestand zu gehen, nicht zwingend von 100 auf null. Die Frage ist, wie man die Beschäftigungsfähigkeit länger sichern kann und welcher Anreize dies bedarf. Erste Schritte in diese Richtung sind mit dem Wegfall der Hinzuverdienstgrenze gemacht worden. Es gibt viele, die für diese Option dankbar sind, aber eben nicht mehr 100 Prozent arbeiten möchten.
Stichwort Qualifizierung. Sollten Unternehmen noch stärker ihre Auszubildenden und ihre Mitarbeitenden fortbilden?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: In puncto Ausbildung leistet insbesondere der deutsche Mittelstand einen enormen Anteil. Bei kleinen und mittleren Unternehmen liegen 80 Prozent der Ausbildungsplätze. Die Verzahnung mit dem Schulsystem muss hier noch stärker werden. Zudem ist lebenslanges Lernen ein weiterer wichtiger Aspekt. Das betrifft auch Menschen jenseits von 50 Jahren.
Ist bessere Kinderbetreuung ein weiterer Hebel, um mehr Frauen in Jobs zu holen?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Im Vergleich zu anderen Ländern ist unser Schulsystem nicht auf berufstätige Eltern ausgerichtet. Hier muss etwas getan werden. Ab 2026 soll es einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung geben. Aber wie soll dies angesichts schon heute fehlender Fachkräfte umgesetzt werden? Viele Unternehmen steuern bereits mit selbst errichteten Kindertagesstätten dagegen. Spätestens in der Grundschule ist das Problem der Betreuung wieder da. Neue Betreuungsmöglichkeiten würden neue Potenziale im Arbeitsmarkt erschließen.
Verschiedene Generationen in einem Unternehmen: Was macht das mit der Unternehmenskultur und mit der Gesundheit der Beschäftigten?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Die Frage ist, was eine Generation von der an-deren lernen kann, was sind die jeweiligen Spezifika? Was können die Alten von den Jungen lernen und umgekehrt? Natürlich sind die Anforderungen sehr unterschiedlich, ebenso die Werte. Man sollte sich aber davon lösen, in Stereotypen zu denken. Im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements sollte das Portfolio breit aufgestellt sein und viele präventive Möglichkeiten für Jung und Alt offerieren. Auch sollten Unternehmen altersgerechte Arbeitsplätze anbieten.
Plädieren Sie generell für die Diversität von Generationen in Unternehmen?
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow: Auf jeden Fall, und es ist egal, ob Alter, Geschlecht oder Herkunft. Viele Studien zeigen deutlich, wie Innovationskraft und Produktivität mit Vielfalt in der Belegschaft steigen.