Was motiviert Sie, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Bernd Priebe: Persönlich bin über die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Männlichkeiten auf dieses Thema gekommen. In der Regel sind es Männer, die übergriffig werden. Und ich glaube, dass es ein unbearbeitetes Feld ist und demnach viel zu tun gibt. Auch in vielen Unternehmen wird dies nach wir vor nicht thematisiert oder man schaut einfach weg und bagatellisiert die Problematik. Ich glaube, das Entscheidende in Unternehmen im Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen, mit sexueller Belästigung, ist, keine Täter-Opfer-Umkehr zuzulassen. Wenn jemand sagt, ich bin betroffen, dann ist diese Person ernst zu nehmen. Hier sehe ich allerdings noch viel Handlungsbedarf.
Können Sie eine Situation aus Ihrem Beratungsalltag beschreiben?
Bernd Priebe: In einem Beratungsgespräch ging es um verbale Übergriffe im betrieblichen Kontext gegenüber einer Freiwilligen, die dort gearbeitet hat. Der Beschuldigte, der bei mir in der Beratung war, sprach immer von „dem Mädel“. Allein schon mit diesem Wording wird eine bestimmte Hierarchie hergestellt: „Dem Mädel” ist nicht zu glauben, das ist nicht ernst zu nehmen. Er leugnete auch, dass irgendetwas stattgefunden hat. Das funktioniert schnell und über verschiedene Ebenen. Über Sprache läuft schon sehr viel und das setzt sich so fort, wenn es in einem Kontext passiert, wo praktisch nicht darauf reagiert wird. Der nächste Schritt wäre – um bei diesem Fall zu bleiben –, körperliche Nähe zu suchen. Es kann auch weiter gehen. Glücklicherweise ist das nicht immer der Fall.
Wie setzt es sich denn fort, wenn diese Abwertung schon derart stark im Sprachgebrauch verinnerlicht ist?
Bernd Priebe: Eine bekannte Berliner Psychologin, Birgit Rommelsbacher, sprach in diesem Zusammenhang von einer Dominanzkultur. Wir leben – trotz vieler Entwicklungen in diesem Bereich – in einer männlich dominierten Gesellschaft mit klaren Geschlechterhierarchien. Das Erlernen dieser hierarchischen Muster findet schon in der frühen Kindheit statt. Im späteren Alter wird das umgesetzt. Man kennt die Hierarchie zwischen Mann und Frau und später agiert man in diesem Kontext. Aber der erste Schritt ist, auf verbaler Ebene übergriffig zu werden. Catcalling ist hier ein Stichwort. Ich beschreibe es kurz an einem Beispiel: Meine Tochter erzählte mir, sie sei mit einer Freundin an einer Baustelle vorbeigekommen, ihnen wurde hinterhergepfiffen. Und das war keine Einzelsituation, wie beide bestätigten. Ansprechen auf der Straße, hinterherpfeifen, all dies findet tatsächlich permanent statt. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang die Nachfrage einer Frau auf Twitter. Sie lautete: Was würdet ihr machen, wenn es eine Nacht lang das andere Geschlecht nicht gäbe? Die Männer schrieben: Ich würde mich mit meinen Jungs treffen, durch Bars und Kneipen ziehen etc. Die Frauen dagegen durchweg: Ich würde mich mit Freundinnen treffen, nachts rausgehen in den Park und keine Angst haben. Das gibt die bereits beschriebene Schieflage sehr gut wieder. Und es beinhaltet einen Appell an uns Männer, uns zu hinterfragen, uns anders zu verhalten.
Worin sehen Sie die Ursachen für Übergriffigkeit?
Bernd Priebe: Es geht um Hierarchien, um Macht, um Unsicherheit, Verunsicherung und Konkurrenz oder manchmal auch um eine grundsätzlich empfundene Kränkung im Job. Von der Chefin oder dem Chef gedemütigt zu werden, eine Verlierersituation zu fürchten oder in eine zu geraten kann ein Grund sein. Wenn Sie sich die Zahlen zu angezeigten Übergriffigkeiten auf Arbeitsebene anschauen, dann stellen Sie fest, dass sie häufig auf gleicher hierarchischer Ebene stattfinden. Dann geht es in der Tat um Konkurrenz, um den Aufbau eines Dominanzverhältnisses oder einer Verunsicherung der jeweiligen Konkurrentin. Hier kommt dann der Begriff der patriarchialen Dividende ins Spiel. Ein Fachwort, das die eingeübte Haltung von Männern beschreibt, die sie seit dem Kindes- und Jugendalter einnehmen und die besagt, dass der Mann im Grunde der Frau überlegen ist; egal, ob das der Überprüfung durch die soziale Wirklichkeit standhält. Als Mann weiß ich, dass eine derartige Ebene immer funktioniert. Nämlich diejenige, dass ich mich zum Beispiel mit sexistischen Sprüchen immer über Frauen hierarchisch hinwegsetzen kann.