Führungskräfte in der Fürsorgepflicht

inForm 03/2021

Ulrike Leimanzik

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Schlüpfrige Sprüche, sexualisierte Witze, der Klaps auf den Hintern: Frauen wie Männer erleben das – auch am Arbeitsplatz. Wie man sich dagegen wehren kann, was Führungskräfte tun müssen und warum Aufklärungsarbeit über das noch immer tabuisierte Thema „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ wichtig ist, darüber hat die inForm-Redaktion mit Ulrike Leimanzik gesprochen. Sie ist Sozialarbeiterin und hat als Kriminalbeamtin viele Jahre im Bereich Sexualdelikte gearbeitet. Aktuell ist sie als Beraterin für das Institut Kogemus tätig, einer Einrichtung, die Präventions- und Interventionsberatung für Jugendliche bei sexualisierter Gewalt anbietet. Darüber hinaus ist sie im Vorstand der Beratungsstelle „Schattenlicht für Frauen und Mädchen“.

Erlebte Formen und Handlungen von sexueller
Belästigung am Arbeitsplatz

Basis: Betroffene von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (n = 141)

Anmerkung: Zahlen in Klammern verweisen darauf, dass die Zellenbesetzung (0 bis 5 Nennungen bzw. Fälle) hier niedrig und dadurch die Prozentangabe nicht aussagekräftig ist; Mehrfachnennungen möglich. Die Darstellung entspricht Abbildung 2 der Studie.

Quelle: Studie „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention“; Antidiskriminierungsstelle des Bundes

  Was treibt Sie an, Frauen und Mädchen, die von sexueller Belästigung oder auch Gewalt betroffen sind, zu beraten?

 Ulrike Leimanzik: Ich habe in der Zeit bei der Kripo viele Opfer von sexualisierter Gewalt erlebt, in der Regel sind dies Frauen und Mädchen. Strafverfahren helfen ihnen nicht immer, tun ihnen nicht immer gut. Was diese Menschen zunächst brauchen, ist jemanden, der zuhört, sie an die Hand nimmt und weiter begleitet, damit sie in der Lage sind, das Erlebte zu verarbeiten. Das hat mich berührt. Ich wollte mich daher nicht nur an den Schreibtisch setzen und mich auf das Strafrechtliche beschränken, sondern mehr machen. Seit die Beratungsstellen entstanden sind, bin ich auch in Arbeitskreisen aktiv, zusammen mit anderen Beraterinnen, Beratern und Sozialarbeitern. Ich bin zwar seit sieben Jahren pensioniert, aber immer noch in diesem Bereich aktiv.


  Hilft Ihnen Ihre berufliche Vergangenheit als Erste Kriminalhauptkommissarin heute für Ihre Arbeit als Beraterin?

 Ulrike Leimanzik: Da ich 42 Jahre Kriminalbeamtin war, weiß ich natürlich, wie Strafverfahren ablaufen, welche Belastungen auf den Schultern der Opfer liegen. Daher kann ich auch gut einschätzen, ob ein Strafverfahren wirklich zu einer Verurteilung führt oder ob das Ganze möglicherweise schon im Vorfeld von der Staatsanwaltschaft eingestellt wird. Das ist wichtig, da Betroffene in der Regel keine Vorstellung haben, wie ein Strafverfahren abläuft. Das ist die eine Seite. Und weil ich so viele Opfer erlebt habe und parallel dazu auch viele Täter, versuche ich, den Betroffenen Hilfreiches mit an die Hand zu geben, damit sie schneller aus der Opferrolle herauskommen und wieder Stärke bekommen. Die Vermischung von Sozialarbeit und Kriminalpolizei finde ich gut und sehr hilfreich an dieser Stelle.


  In welcher Situation kommen Frauen und Mädchen zu Ihnen?

 Ulrike Leimanzik: Das Spektrum reicht von sexueller Belästigung bis hin zu Vergewaltigung. Wobei es erschreckend ist, dass die Auswirkungen einer Vergewaltigung oftmals genauso sind wie bei einer sexuellen Belästigung, wenn diese über einen längeren Zeitraum erfolgt. Das ist dann wie Mobbing, da wird ein Mensch systematisch erniedrigt und zerstört.


  Welche Formen von sexueller Belästigung erleben Sie bei Ihren Klientinnen?

 Ulrike Leimanzik: Es geht in erster Linie um Übergriffe, um das Fassen an die Brust, um das Tatschen am Gesäß, im Intimbereich. Aber sexuelle Belästigung kann auch ein Blick sein. Wenn eine Frau beispielsweise das Gefühl hat, der Mann, der im Abteil im Zug gegenübersitzt, beguckt sie so, dass er sie mit Blicken auszieht. Es kann auch ein Kalender sein, der im Büro hängt. Das können Sprüche oder Witze sein. Frauen, die sich zur Wehr setzen oder sagen, dass sie das nicht wollen, erleben häufig die Reaktion: Da musst du drüberstehen! Lach doch darüber! Das ist dann fatal, denn dadurch zeigt man, dass ihre Gefühle nicht ernst genommen werden.


  Reagieren Führungskräfte in Unternehmen ähnlich, wenn Mitarbeiterinnen zu ihnen kommen, um über Vorfälle zu berichten?

 Ulrike Leimanzik: Ja, das ist in der Tat so. Häufig ist es ein Machtgefälle zwischen der Person, die belästigt, und derjenigen, die belästigt wird. Es gibt auch Männer, die belästigt werden, und Frauen, die belästigen. Aber in der überwiegenden Zahl sind es Männer, die Frauen belästigen. In Unternehmen ist das häufig der Vorgesetzte, der erfahrene Kollege und die Frau, die vielleicht Berufsanfängerin ist, noch in der Probezeit und bedeutend jünger. Deshalb kann man da tatsächlich von einem Machtgefälle sprechen und von einer schwierigen Situation für die betroffene Frau.


  Was kann man daran ändern?

 Ulrike Leimanzik: Ich bin stark eingebunden in die Fortbildung von Führungskräften. Es ist sehr wichtig, dort die Informationen rüberzubringen, was sexuelle Belästigung ist. Eben dass es sich nicht um ein Kavaliersdelikt, sondern um eine ernst zu nehmende Angelegenheit handelt, die Menschen zerstören kann. Führungskräfte müssen sich bewusst sein, dass sie eine Pflicht haben einzugreifen, sie haben eine Fürsorgepflicht. Sie können nicht einfach wegschauen oder das Ganze ignorieren, sie müssen handeln.


  Doch dafür müssen sich Betroffene ja zunächst ihrer Führungskraft anvertrauen. Wie häufig geschieht das?

 Ulrike Leimanzik: Leider viel zu selten. Zunächst müssen sich Betroffene selbst klarmachen, was da abgelaufen ist. Oftmals ist es ja ein ungutes Gefühl und die Betroffene weiß gar nicht: Was ist denn da passiert? Warum reagiere ich so empfindlich darauf? Das muss sie erst einmal für sich selbst klar haben. Und dann mit jemanden darüber sprechen, die oder der sich das anhört, zuhört und das Gesagte ernst nimmt, um dann sicher zu sein: Ja, da ist jemand über meine Grenze gegangen. Das war nicht in Ordnung. Ich rate immer, sich Verbündete zu suchen. Das kann eine ältere Kollegin sein, die dann sagt: Stimmt! Das ist mir auch passiert. Ich habe mich nicht getraut, mich zu wehren, aber es stimmt, derjenige macht das immer so. Als Gruppe ist es leichter, irgendwann zu der oder dem Vorgesetzten zu gehen.


  Das heißt, das Leiden einer Betroffenen kann durchaus auch über einen längeren Zeitraum erfolgen?

 Ulrike Leimanzik: Ja. Sexuelle Belästigung, die über einen längeren Zeitraum geht, ist vergleichbar mit Mobbing. Sie schadet und macht Menschen kaputt und krank. Um ein Beispiel zu nennen: Ich arbeite als freie Mitarbeiterin für das Institut Kogemus. Dort hatten wir die Anfrage eines Jugendamtes aus einer Stadt aus dem Ruhrgebiet bekommen. Die Leiterin hatte uns gebeten, sie zu unterstützen, da viele junge Mitarbeiterinnen geklagt hatten, dass sie seit Jahren von einem älteren Mitarbeiter sexuell belästigt werden. Wir haben uns dann mit den Frauen zusammengesetzt und darüber gesprochen. Ich war sehr erschrocken, wie betroffen jede Einzelne von ihnen war. Sie hatten sich wirklich über Jahre immer wieder Sprüche anhören müssen. Es ging nicht um Berührungen, sondern um sexualisierte Witze, Beleidigungen, Demütigungen. Und die jungen Frauen waren gerade frisch im Job, einige von ihnen waren noch in der Probezeit, und daher haben sie sich nicht getraut, sich gegen den älteren Kollegen, der ihr Teamleiter war, zu wehren. Wenn sie doch mal etwas gesagt haben, war die Reaktion anderer Kollegen: Ach, ihr kennt den doch! Stellt euch doch nicht so an! Daher haben sie geschwiegen. Dann wechselte die Jugendamtsleiterin, die diesbezüglich extremen Handlungsbedarf sah. Allein, dass die Frauen mit uns darüber sprechen konnten, hat ihnen enorm geholfen. Dem Teamleiter wurde mit Konsequenzen gedroht, sofern er sein Verhalten nicht ändern würde.


  Was muss sich in der Kultur von Unternehmen, Behörden oder Institutionen ändern, dass sexuelle Belästigung aus der Tabuzone herauskommt?

 Ulrike Leimanzik: Das Arbeitsklima sollte eigentlich so sein, dass jeder sich traut, sich zu öffnen, und genau weiß: Wenn ich das tue, bekomme ich Hilfe und Unterstützung. Dieses Klima ist leider nicht überall vorhanden. Aber dazu muss auch wirklich aufgeklärt werden. Vielen ist gar nicht bewusst, dass schlüpfrige Witze oder Sprüche schon sexuelle Belästigung sein können. Dafür muss sensibilisiert werden; außerdem muss man deutlich machen, dass jeder Mensch seine eigene Grenze hat. Und auch die ist ja nicht starr. Bin ich heute gut drauf, kann ich Dinge besser ertragen oder wegstecken als an Tagen, an denen es mir nicht gut geht. Daher muss zunächst jede einzelne Person für sich selbst überlegen: Wo ist meine Grenze? Was will ich tolerieren? Wünschenswert wäre natürlich, wenn man dann in einer grenzwertigen Situation den Mut hat zu sagen: So einen Spruch will ich nicht hören. So einen Witz will ich nicht hören. Da kann ich nicht drüber lachen.

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