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Der vermeintlich kleine Unterschied: Gendergerechtigkeit im Arbeitsschutz

Wie können Unternehmen Unterschiede zwischen Männern und Frauen adäquat berücksichtigen und etwas dafür tun, dass Frauen am Arbeitsplatz ausreichend geschützt sind und gesund bleiben? Antworten von BAD-Arbeitsschutzexpertin Andrea Liede.
 

Andrea Liede arbeitet seit 26 Jahren in einem meist männerdominierten Umfeld. Auf den ersten Blick scheinen die besonderen Bedürfnisse von Frauen im Arbeitsschutz immer mehr wahrgenommen zu werden. Vieles hat sich in den letzten Jahren getan: Es gibt beispielsweise an Frauenfüße angepasste Sicherheitsschuhe und auch Exoskelette werden auf den Körperbau von Frauen zugeschnitten. Doch diverse Gremien und Arbeitsgruppen in Fachkreisen und auf Bundes- und EU-Ebene zum Thema gendergerechter Arbeitsschutz zeigen: Es gibt noch Klärungs- und Handlungsbedarf.

Für die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) steht fest: Die geschlechts- und rollenspezifischen Unterschiede können sich auf die Gefahren auswirken, mit denen Männer und Frauen bei der Arbeit konfrontiert sind, und auf die Art und Weise ihrer Beurteilung und Eindämmung.

So müssen Frauen etwa oft die doppelte Verantwortlichkeit bei der Arbeit und zu Hause unter einen Hut bringen oder Arbeiten ausführen, die oftmals irrtümlich als sicher und einfach betrachtet werden. Häufig finden diese Unterschiede in der Sicherheits- und Gesundheitsschutzpraxis keine Berücksichtigung. Und Arbeitsbelastung und stressbedingte Gefahren für Frauen am Arbeitsplatz werden oft unterschätzt.
 

Mehr als der kleine Unterschied

Vor allem die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen mit Faktoren wie Schwangerschaft, Menstruation und Menopause bergen spezifische Herausforderungen am Arbeitsplatz. Arbeitsumgebungen müssen grundsätzlich entsprechend gestaltet sein, um die Gesundheit und Sicherheit von Frauen auch in diesen Lebensphasen zu gewährleisten. Oft fehlt es aber – vor allem in Kleinstbetrieben – an den einfachsten Dingen wie Abfallbehältern in den Toiletten oder getrennten Umkleiden.

Werdende Mütter bedürfen eines besonderen Schutzes – nicht nur, was das Heben von schweren Lasten angeht oder den Umgang mit gefährlichen Stoffen. Es muss auch sichergestellt sein, dass eine schwangere oder stillende Frau ihre Tätigkeit am Arbeitsplatz jederzeit kurz unterbrechen und sich unter geeigneten Bedingungen hinsetzen, hinlegen oder ausruhen kann.

Der Arbeitgeber ist auch verpflichtet, für jede Tätigkeit im Betrieb eine mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung durchzuführen – selbst, wenn zum Zeitpunkt der Beurteilung keine Frau in dem Bereich beschäftigt ist. Eine gesetzliche Vorgabe, der längst nicht alle Betriebe nachkommen, wie Andrea Liede erklärt. Weiter gedacht heißt das: Wenn die Voraussetzungen für das Arbeiten einer Schwangeren für eine Tätigkeit schon im Grundsatz nicht erfüllt werden können, kann die Stelle auch schlecht mit einer Frau besetzt werden.
 

Von Menstruation, Menopause und Mobbing

Unterhalb der deutlich sichtbaren oder wissenschaftlich belegbaren Themen im Arbeitsschutz gibt es eine Grauzone – hier ist der Übergang in den Bereich der strukturellen oder sexuellen Diskriminierung fließend. Wie gehen etwa Unternehmen, Führungskräfte oder Kollegen mit Frauen um, die hormonell-bedingten Schwankungen ausgesetzt sind und wegen Beschwerden oder Schmerzen vielleicht mal nicht voll einsatzfähig sind?

Oft trauen sich die Frauen dann gar nicht, dies ihrer Führungskraft auch offen zu sagen – auch aus Angst, nicht ernstgenommen zu werden. Denn es gibt immer noch Männer, die Frauen in diesem Zusammenhang als „zickig“ und „empfindlich“ bezeichnen.
 

Entlastung statt Diskriminierung und Druck

Auch bei der Frage, wie warm es im Büro sein soll, werden Bedürfnisse von Frauen heruntergespielt. Und das, obwohl es ebenfalls wissenschaftlich belegt ist, dass Frauen nicht nur ein anderes Temperaturempfinden haben als Männer, sondern dass dies auch Einfluss auf die kognitive Leistung hat.

Frauen fühlen sich aber auch häufig in anderen Zusammenhängen nicht ernstgenommen: „Es gibt immer noch Beschäftigte, die die Anweisungen von männlichen Vorgesetzten eher umsetzen als die von weiblichen“, berichtet Andrea Liede. Die Folge: Frauen fühlen sich unwohl, diskriminiert und ihre psychische Gesundheit kann aus dem Gleichgewicht geraten.
 

Was Unternehmen tun können

Mit all diesen Problemen gehen Frauen sehr unterschiedlich um: Manche Frauen sind oder fühlen sich nicht belastet oder benachteiligt und sehen daher keinen Handlungsbedarf. Manche kümmern sich selbst darum, dass ihre Bedürfnisse und Anliegen Gehör finden. Andere flüchten sich in die innere Kündigung oder suchen sich einen anderen Job. „Es ist Aufgabe der Führungskräfte, die jeweilige Situation richtig einzuschätzen und die Frauen dort zu schützen und zu unterstützen, wo es nötig ist“, erklärt die Arbeitsschutzexpertin.

Sie macht deutlich: “Über den reinen Arbeitsschutz hinaus ist es notwendig, einen umfassenden Blick auf die Situation von Frauen am Arbeitsplatz zu werfen und Arbeitsplätze an die Bedürfnisse von Frauen anzupassen und geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz anzuerkennen.”

Bei BAD beraten Arbeitsmediziner:innen, Sicherheitsfachkräfte und Berater:innen für Gesundheitsmanagement Hand in Hand. „Von solch einem ganzheitlichen Ansatz können viele Frauen profitieren”, ist sich Andrea Liede sicher.

Unternehmen können Frauen mit Programmen zur Stressreduktion unterstützen. Noch besser ist, wenn der Stress gar nicht entsteht. Mit flexiblen Arbeitszeiten etwa können sie der besonderen Belastung vieler Frauen durch zusätzliche Care-Arbeit zu Hause Rechnung tragen. Nicht zuletzt aufgrund des Fachkräftemangels sollten sich Unternehmer:innen Gedanken darüber machen, wie sie Mitarbeitende halten, schützen und fördern können. Durch mehr Aufmerksamkeit und ein Umdenken der  Verantwortlichen können vielleicht mehr vermeintliche Männerberufe für Frauen attraktiver werden.

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