Über ihre abwechslungsreichen Aufgaben im Pandemie-Alltag als Arbeitsmedizinerin berichtet Dr. Kerschgens in Certo, dem Magazin für Sicherheit und Gesundheit der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG). Sie ist Fachärztin für Arbeitsmedizin und für Innere Medizin, Sozial-, Reha-, Reise- und Sportmedizin.
Frau Dr. Kerschgens, die klassischen Aufgabengebiete von Betriebsärztinnen und -ärzten bestehen in der konkret auf die Verhältnisse am Arbeitsplatz und die Gesundheit der Beschäftigten bezogenen arbeitsmedizinischen Beratung. Hat die Coronavirus-Pandemie Ihr Arbeitsleben auf den Kopf gestellt?
Dr. Christa Kerschgens: Einerseits ja, weil uns die Beschäftigung mit der Pandemie vor viele neue Herausforderungen gestellt hat, für die wir rasch sinnvolle Lösungen finden mussten. Andererseits waren wir in die betriebsärztliche Betreuung bereits lange eingebunden und konnten auf unsere Expertise im Arbeits- und Gesundheitsschutz und dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement zurückgreifen.
Wie können wir uns Ihren Arbeitsalltag ohne Pandemie vorstellen?
Dr. Kerschgens: Grundsätzlich liegt der Fokus unserer Arbeit als Betriebsärztinnen und -ärzte auf den Wechselwirkungen von Arbeit und Gesundheit. In den Belangen der Grundbetreuung beraten wir dazu in den zuständigen Gremien, beispielsweise in der Arbeitsschutzausschusssitzung (ASA). Wir führen Betriebsbegehungen durch und unterstützen in der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung. Im Rahmen der betriebsspezifischen Betreuung beraten wir Beschäftigte, führen Vorsorgen nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) durch, die sich an der Gefährdungsbeurteilung orientieren, und darüber hinaus führen wir – soweit rechtliche Grundlagen bestehen – Eignungsuntersuchungen durch, zum Beispiel im Rahmen der Fahrerlaubnisverordnung.
Arbeitsmedizinische Vorsorge dient dem Erkennen und Verhüten von arbeitsbedingten Erkrankungen und Berufskrankheiten, dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und der Weiterentwicklung des betrieblichen Gesundheitsschutzes. Insofern haben wir unsere betriebsärztliche Tätigkeit in vollem Umfang fortgeführt, unsere Arbeitsinhalte waren aber – zumindest in den ersten Monaten – gefüllt mit pandemiespezifischen Themen. Geholfen hat uns dabei die klar strukturierte Herangehensweise in der Arbeitsmedizin sowie die Teamarbeit zwischen allen Beteiligten.
Was war zwischenzeitlich anders?
Dr. Kerschgens: Einige vor dem Coronavirus bestehende Diskussionen, sei es um die Ausstattung von Arbeitsplätzen, um Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz oder Betriebliches Gesundheitsmanagement, fanden zeitweise nicht mehr in der Breite der Themen statt, sondern fokussierten sich komplett auf die Coronavirus-Pandemie. Da mussten wir priorisieren und uns zunächst um die absolut brennenden Fragen kümmern. Es gibt aber auch Erfordernisse in der Arbeitsmedizin, die wir auch während der ganzen Pandemie aufrechterhalten haben, weil sie von großer Bedeutung sind.
Der Kontakt in die von uns betreuten Betriebe zählt dazu, die Unterstützung in der Umsetzung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung oder den Infektionsschutzverordnungen der Länder. Aber auch der – meist – telefonische Kontakt zu Rat suchenden Beschäftigten, die mit der Vereinzelung im Homeoffice überfordert waren, war in dieser Phase ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Unsere BGM-Maßnahmen haben wir virtuell als interaktive Webinare angeboten, das war auch für uns eine neue und absolut sinnvolle Erfahrung. Untersuchungsverfahren für bestimmte Tätigkeiten – beispielsweise eine Fahrerlaubnis oder auf Grundlage anderer Verordnungen – wurden weiter durchgeführt. Wir haben versucht, Beratungen vorrangig telefonisch durchzuführen, um die persönlichen Kontakte zu minimieren.
War es sehr schwierig für Sie, Kundinnen und Kunden nicht vor Ort zu betreuen?
Dr. Kerschgens: Nach einer etwas schleppenden Eingewöhnungsphase wurden die Angebote erstaunlich gut angenommen, sei es die telefonische Sprechstunde oder die virtuell durchgeführten Ausschusstreffen. Virtuelle Sprechstunden haben wir nur so weit durchführen können, wie es auch vom Datenschutz her möglich ist. Dennoch glaube ich, dass im Gegensatz zum persönlichen Kontakt bei der telefonischen Beratung sehr vieles fehlt. Also Mimik, Gestik, alles das, was nonverbale Kommunikation betrifft, lässt sich nicht so einfach telefonisch übermitteln. Und außerdem ist es natürlich auch so, dass mitunter vielleicht auch Dinge, die ich sonst noch gemacht hätte, wie jemandem zusätzlich vielleicht Herz und Lunge abhören oder den Blutdruck messen, nicht stattfinden konnten. Wenn ich den Eindruck hatte, dass weitere Untersuchungen nötig waren, bei denen Beschäftigte persönlich vorstellig werden mussten, haben wir das entsprechend organisiert.
Das Homeoffice war in vielen Bereichen herausfordernd. Dem Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse zufolge, der im Juni 2021 erschien, sind viele Menschen durch die pandemiebedingten Einschränkungen psychisch sehr stark belastet. 44,3 Prozent der Frauen fühlen sich aktuell stark oder sehr stark durch die Coronavirus-Pandemie belastet. Sind Sie erstaunt über diese Zahlen?
Dr. Kerschgens: Keinesfalls. Eine Pandemie bedeutet, dass es für alle Menschen massive Veränderungen in jedem Lebensbereich gibt, nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch im Privatleben. Das ist insofern wichtig, weil sonst in einzelnen Bereichen vielleicht mal Belastungen vorliegen könnten, die durch andere Lebensbereiche aufgefangen werden können, zum Beispiel Konflikte am Arbeitsplatz.
Aber in einer Zeit, wie wir sie jetzt erlebt haben, war es für niemandem mehr möglich, Ressourcen aus den sonst bekannten Quellen zu schöpfen. Alle waren also vor die Herausforderung gestellt, sich selbst zu überlegen, wo und wie sie Stärke generieren können. Einige haben das sehr schnell geschafft, indem sie sich über virtuelle Lösungen ausgetauscht oder etwa für sich selbst Sport zu Hause durchgeführt haben, um fit zu bleiben. Andere konnten sich nicht so schnell umstellen. Ich glaube, das erklärt einige der Belastungen, die viele erlebt haben. Hier gibt es viel aufzuarbeiten.
Was genau waren und sind auf die Pandemie bezogen Ihre Hauptthemen?
Dr. Kerschgens: Nachdem das Bundesarbeitsministerium im April 2020 die ersten Vorgaben veröffentlicht hatte, stand mein Telefon nicht still. Viele Betriebe hatten da schon selbst Regelungen geschaffen; sie haben dann gesehen, dass beispielsweise Zwischenwände vielleicht 20 Zentimeter zu niedrig waren, und mussten dann nachbessern.
Vor allem ging es um Lösungskonzepte im Raum und Raumgrößen. Das ganze Thema ist relativ komplex, weil man eben auch die Arbeitsabläufe möglicherweise noch mal neu strukturieren musste und in den Betrieben beispielsweise Kohorten bildete, also Beschäftigte in feste Gruppen einteilte, sodass es im Fall einer Infektion einfacher war, die betreffenden Kolleginnen und Kollegen in Quarantäne zu schicken, ohne gleich ein ganzes Team lahmzulegen.
Als die ersten Selbsttests dann zugelassen wurden, gab es ebenfalls sehr viel Informationsbedarf. Im weiteren Verlauf der Pandemie haben wir uns dann auch um das ganze medizinische Equipment, also Tests und – sobald die verfügbar waren – auch die Impfstoffe gekümmert. Aktuell ist die Impfmüdigkeit, wenn man das so nennen möchte, ein Problem. Daher spielt die Beratung hinsichtlich der Vorteile der Impfung, aber auch zu möglichen Risiken natürlich nach wie vor für uns eine große Rolle.
Apropos Impfmüdigkeit: Was ist der Stand bezüglich Impfungen in Betrieben, und was sind Ihre Erfahrungen?
Dr. Kerschgens: Anfangs gab es eine sehr große Nachfrage nach Impfstoff. Die Betriebsärztinnen und -ärzte wurden miteinbezogen, was sehr begrüßenswert ist, weil wir wirklich sehr niedrigschwellig Zugang zu Impfwilligen haben. Meine Erfahrung ist, dass es eine große Gruppe Beschäftigter in allen Betrieben gab, die sich von vornherein sehr schnell zur Impfung angemeldet hatte. Natürlich gab es mitunter noch mal Rückfragen, die wir in zusätzlichen Sprechstunden beantwortet haben.
Die Quote der Skeptischen, die sich dann doch für eine Impfung entschieden haben, ist hoch. Ab und zu treffe ich auch auf Beschäftigte, die sich quasi auf wissenschaftlich basierte Argumente überhaupt nicht einlassen und eine Impfung kategorisch ausschließen. Leider sind das diejenigen, die jetzt auch noch schwer erkranken können, obwohl sie sich eigentlich durch eine Impfung mit einem vertretbaren Risiko schützen könnten.
Wie gut sind die Unternehmen, die Sie betreuen, für zu erwartende steigende Infektionszahlen in den Herbst- und Wintermonaten gerüstet?
Dr. Kerschgens: Wir nehmen jetzt in den Betrieben wahr, dass wir gemeinsam versuchen müssen, zurück in eine „neue“ Normalität zu gelangen. Es fängt wieder an, dass auch die üblichen Vorsorgeanlässe wie die Bildschirmvorsorge durchgeführt werden oder die Beratung zu Themen wie Stressbelastung, Konflikten am Arbeitsplatz oder psychischen Belastungen ihre Bedeutung zurückerlangen.
Was die Pandemie angeht, glaube ich, dass die Betriebe mittlerweile in ihren Strukturen sehr viele Erfahrungen gewonnen haben. So lässt sich besser entscheiden, welche Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit eher im Homeoffice arbeiten können und wie diejenigen geschützt werden können, für die das nicht möglich ist. Es gibt in praktisch allen Betrieben, die ich betreue, verwendete Systeme für virtuelle Konferenzen, Online-Team-Events und Sportkurse, die auch im Homeoffice genutzt werden können. Es kann hilfreich werden, diese Erfahrungen auch dann weiter zu nutzen, wenn wieder mehr an persönlichem Kontakt möglich ist. Insgesamt würde ich also sagen, dass wir deutlich weiter sind als vor einem Jahr.
Arbeitsmedizinische Hilfe in der Pandemie
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