Unfall, Unfallforschung

Es gibt verschiedene Ansätze zur Definition des Unfalls. Weit verbreitet ist es, den Unfall anhand seiner Folgen zu bestimmen. Mensch und Gegenstand treffen ungewollt zusammen. Dieses Zusammentreffen bewirkt eine Verletzung und/oder Sachschaden. Statt eines Gegenstandes kann es sich auch um andere Menschen oder um Energie (z. B. Strahlung, Wärme) handeln. Speziell im Straßenverkehr gelten auch Ereignisse als Unfälle, die nur zu Sachschäden führen. Das Alltagsverständnis vom Unfall dürfte dieser folgenorientierten Sichtweise am ehesten entsprechen.

Unfälle als eine Ereignissequenz

Andere Ansätze legen den Schwerpunkt auf die Betrachtung der vorausgehenden Bedingungen. Sie verstehen Unfälle als eine Ereignissequenz, die mit einer Art von Störfall oder Abweichung vom Normalfall (Parameter weichen von Führungsgrößen ab) beginnt, sich über eine Abfolge mehrerer unfallfördernder Ereignisse und Zwischenstufen (z. B. falsche Interpretation von Informationen, Fehlhandlungen) bis zur Kollision zwischen Gegenstand und Mensch fortsetzt und dann Verletzungen oder Sachschäden bewirkt.

Systemischen Betrachtungsweise in der Unfallforschung

Es hat sich durchgesetzt, diese Verlaufsbetrachtung (Längsschnittsbetrachtung) um eine Querschnittsbetrachtung zu ergänzen. Man spricht in diesem Zusammenhang in der Unfallforschung auch von einer systemischen Betrachtungsweise (Systembetrachtung, Systemsicherheit). Analyseeinheit ist das Mensch-Maschine-Umweltsystem bzw. das Arbeitssystem. Dieses System hat bestimmte Ziele (z. B. Produkte herstellen). Kommt es zu Unfällen, dann hat das System versagt. Unfälle können als Systemversagen aufgefasst werden. In der Praxis der Sicherheitsarbeit steht die Orientierung am Unfallgeschehen oft im Vordergrund. Letztlich geht es ja um die Vermeidung von Unfällen. Daher ist es verständlich, dass Unfallzahlen zur Legitimation von Sicherheitsarbeit herangezogen werden und auch der Wunsch besteht, den Erfolg der Arbeit an der Entwicklung des Unfallgeschehens zu überprüfen.

Unfallverhütung

Allerdings liegen in einer Strategie, die sich ausschließlich oder überwiegend einer reinen Unfallverhütung verschreibt, gravierende Probleme. Strenge Ausrichtung am Unfallgeschehen beruht auf der Überzeugung, dass das Unfallaufkommen ein zuverlässiger Indikator für das in einem Betrieb, einer Abteilung oder bei bestimmten Tätigkeiten bestehende Sicherheits- oder Gefährdungsniveau ist. Dies ist aber nur sehr bedingt der Fall. Denn trotz der hohen Zahlen in den Statistiken sind Unfälle, wahrscheinlichkeitstheoretisch betrachtet, seltene Ereignisse. Sie sind in großem Maße zufallsbedingt, was jedoch nicht bedeutet, dass sie keine Ursachen hätten. Der Zufall spielt im Unfallgeschehen aber insofern eine Rolle, als Unfälle im Regelfall multikausal bedingt sind. Eine Ursache reicht für das Zustandekommen im Allgemeinen nicht aus. Zu einer bestimmten Ursache muss noch eine weitere Ursache hinzukommen (oder sogar mehrere). Erst wenn diese verschiedenen Anlässe und Ursachen zusammentreffen, ist das Unfallereignis unvermeidbar. Ob sie zusammentreffen, wann und wo dieses geschieht, ist nicht determiniert. Das Zusammentreffen ist der Zufall. Ein Beispiel: Ein Hammer, der von einem Baugerüst fällt, verursacht noch keinen Unfall. Dies ist nur dann der Fall, wenn sich genau zu diesem Zeitpunkt an der entsprechenden Stelle am Boden ein Mensch aufhält. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls steigt zwar mit der Zahl der herabfallenden Hämmer und der am Boden arbeitenden Personen. Die Zahl der Unfälle bleibt im Vergleich zur Zahl der Ereignisse "Hammer fällt zu Boden" aber gering.

Sicherheitsarbeit in der Unfallforschung

Sicherheitsarbeit ist auch dann erforderlich, wenn keine Unfälle beobachtet werden. Eine rein auf die Unfallzahlen bezogene Strategie sieht ihren Ausgangspunkt und ihre Legitimation aber ausschließlich im Unfallgeschehen, und man verfährt nach der Devise: "Weil es in diesem Bereich keine Unfälle gibt, besteht kein Anlass zum Handeln." Andere Legitimationen scheiden mehr oder weniger von vornherein aus (z. B. Unzufriedenheit der Mitarbeiter, hoher Krankenstand, hohe Fluktuation). Man muss auf Unfallerereignisse warten und kann nur reaktiv, aber nicht im Vorfeld handeln (z. B. bei der Einführung neuer Technologien, bei Veränderungen im organisatorischen Bereich). Ein weiteres Problem reiner Unfallverhütungsansätze liegt darin, dass die in den üblichen Statistiken enthaltenen Informationen über Unfallursachen oft keine Ableitungen für präventive Maßnahmen ermöglichen. Unfallstatistiken, mögen sie auch noch so exakt angelegt sein, vermitteln kein umfassendes Bild von den Verhältnissen, die (im weiteren Sinne) zum Unfall beigetragen haben. Wird z. B. "Springen von der Rampe" als Unfallursache registriert, dann ist damit noch lange nicht geklärt, warum jemand von der Rampe sprang und sich dabei verletzte. Dies zu wissen wäre aber wichtig, will man Wege zur Abhilfe finden. Gleiches trifft auch auf amtliche Verkehrsunfallstatistiken zu. Wenn die Polizei als Unfallursache "überhöhte Geschwindigkeit" feststellt, dann ist damit keineswegs bekannt, warum jemand so fuhr, dass er von der Fahrbahn abkam, und welche Ansatzpunkte bestehen, dieses Ereignis in Zukunft weniger wahrscheinlich zu machen.

Arbeitsunfälle in der Unfallforschung

Die in Statistiken genannten Ursachen sind bei näherem Hinsehen nur Wirkungen anderer Ursachen, die ihrerseits wiederum Ursachen haben. In vielen Veröffentlichungen liest man, dass zwischen 70 % und 95 % aller Arbeitsunfälle auf menschliches Fehlverhalten wie mangelnde Aufmerksamkeit zurückzuführen sind. Unfälle geschehen zwar "vor Ort" in der konkreten Arbeitssituation, ihre tieferen Ursachen können aber durchaus an anderen Stellen liegen, z. B. im Bereich des Personalmanagements oder der Organisation von Betriebs- und Arbeitsabläufen. Deshalb ist es nicht immer angemessen, in der Sicherheitsarbeit von den statistisch erfassten Ursachen auszugehen. Manchmal kann es sinnvoller sein, die mittelbaren Ursachen eines Unfalls herauszufinden und diese anzugehen. Rangierunfälle in einem Fuhrpark können z. B. eher mit mangelnder Identifikation des Fahrers mit dem Fahrzeug zusammenhängen als mit Mängeln beim Fahrkönnen.

Unfallstatistiken in der Unfallforschung

Unfallstatistiken erfassen nur einen mehr oder weniger eng begrenzten Teilausschnitt des komplexen Gesamtgeschehens. Dies ist schon deshalb so, weil sich ein Unfallereignis und seine Entwicklung oft nur unzureichend rekonstruieren lassen: Der Betroffene kann unter Schock stehen, oder es werden aus Angst vor versicherungsrechtlichen Nachteilen unvollständige Angaben gemacht. Um die Nachteile einer allein auf Unfallverhütung zielenden Vorgehensweise zu überwinden, hat sich in der Unfallforschung eine Ausweitung vollzogen. Es geht ihr nicht nur um die Verhütung von Unfällen, sondern um eine Verbesserung der Sicherheit von Arbeits- bzw. Mensch-Maschine-Umweltsystemen. Unfallforschung ist damit zur Sicherheitsforschung geworden. Sie bezieht die "Vorboten" von Unfällen - dies sind Beinaheunfälle, sicherheitswidriges Verhalten und Störungen - ausdrücklich in die Betrachtung mit ein. In interdisziplinärer Zusammenarbeit ist sie darum bemüht, die im System ablaufenden Prozesse aufzuklären und die Wechselwirkungen zwischen technischen und organisatorischen Bedingungen und dem Verhalten zu ermitteln. Sie will Unfälle, Beinaheunfälle, Fehlhandlungen usw. sowie die inneren und äußeren Bedingungen, unter denen sie auftreten, beschreiben. Zur retrospektiven (zurückblickenden) Unfalluntersuchung tritt die prospektive (vorausschauende), Unfall unabhängige Gefährdungsbeurteilung. Es wurden Verfahren entwickelt, die es ermöglichen, schon im Vorfeld des Unfalles Risiken, Sicherheit und Gefährdungsgrad abzuschätzen. Dadurch lässt sich die Sicherheit von Arbeitssystemen verbessern, bevor es zu Unfällen kommt.

Quellen

www.arbeit-und-gesundheit.de