Gewalt am Arbeitsplatz

Unter Gewalt am Arbeitsplatz wird der tätliche Übergriff oder dessen Androhung verstanden. Dieses gilt sowohl für Übergriffe durch Kollegen als auch durch Dritte. Nach der Definition der International Labour Organization (ILO) ist Gewalt am Arbeitsplatz: "Jede Handlung, Begebenheit oder von angemessenem Benehmen abweichendes Verhalten, wodurch eine Person in Verlaufe oder in direkter Folge ihrer Arbeit schwer beleidigt, bedroht, verletzt, verwundet wird." Gewalt am Arbeitsplatz unterscheidet sich von Gewalt in anderen Sozialbeziehungen durch
  • die eingeschränkte Möglichkeit des Einzelnen, sich konkreten Situationen zu entziehen, und
  • die institutionellen Verantwortlichkeiten für Prävention und Opferhilfe.

Verbreitung von Gewalt am Arbeitsplatz

Nach dem dritten "European Survey on Working Conditions" sind etwa 4 % der europäischen Erwerbspersonen (etwa 6 Mio. Personen) von Übergriffen betroffen, die von Personen außerhalb des eigenen Arbeitsplatzes ausgehen (z. B. Kunden), etwa 2 % von Übergriffen durch Kollegen oder Vorgesetzte. Überträgt man diese Werte auf die 43 Mio. Versicherten der Berufsgenossenschaften, bedeutet dies, dass etwa 1,72 Mio. Versicherte in Deutschland von Gewalt durch Dritte am Arbeitsplatz bedroht oder betroffen sind, weitere 0,8 Mio. durch Kollegen oder Vorgesetzte. Andere Quellen sprechen von 12 Mio. Betroffenen im europäischen Raum, wenn nicht nur die körperliche Gewalt hierzu gezählt wird (Eurogip 1998). Im vierten Survey (2006) ist ein weiterer Anstieg dieser Zahlen auf ungefähr 5 % betroffener Arbeitnehmer erfolgt. Ein anhaltender Anstieg von Gewalt am Arbeitsplatz ist in den letzten Jahren in Australien und den Vereinigten Staaten von Amerika zu verzeichnen, auch wenn hier die Bedingungen (insbesondere die Waffengesetze) und die Definition von Gewalt anders sind als in der EU. Im Bereich der deutschen gewerblichen Wirtschaft ist - nach einer Konstanz der Zahl der meldepflichtigen Unfälle über die vorhergehenden 15 Jahre - ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen im Jahr 2004 von ca. 5000 Fällen pro Jahr auf über 7000 zu verzeichnen.

Risikofaktoren von Gewalt am Arbeitsplatz

Bei einigen Beschäftigtengruppen liegt das Risiko, mit Gewalt am Arbeitsplatz konfrontiert zu werden, deutlich über dem anderer Beschäftigtengruppen. Dazu gehören Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, etwa Mitarbeiter von Versorgungs- und Sozialbehörden oder Mitarbeiter im Gesundheits- und Servicebereich. Nach US-amerikanischen Statistiken lassen sich folgende Risikofaktoren für die Gefährdung durch Gewalt durch Dritte am Arbeitsplatz isolieren:
  • Publikumskontakt
  • Umgang mit Geld ("Handling Money")
  • Arbeit in der Dienstleistung und im Service
  • Arbeit nachts oder in den frühen Morgenstunden
  • Arbeit allein oder in kleinen Gruppen.
Jeder dieser Faktoren erhöht, statistisch gesehen, das Risiko, Opfer von Übergriffen zu werden. Als weitere Risikogruppen für Übergriffe innerhalb von Unternehmen finden sich auf Opferseite die prekär Beschäftigten (Zeit- und Leiharbeiter) sowie Ausländer und Behinderte.

Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz

Bei Gewalt am Arbeitsplatz werden in aller Regel Straftatbestände verwirklicht. In erster Linie ist hierbei an Körperverletzung (§ 223 StGB) mit ihren Qualifikationen gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) und Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) sowie an Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), erpresserischen Menschenraub (§ 239a StGB), Geiselnahme (§ 239b StGB), Nötigung (§ 240 StGB) und Bedrohung (§ 241 StGB) zu denken. Bei jedem Einzelfall ist zu prüfen, ob die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten sind. In der Regel wird die Erstattung einer Strafanzeige gem. § 158 StPO anzuraten sein. Bei der Frage, ob eine Strafanzeige erstattet werden soll, kann außer nach der Schwere des Delikts auch danach differenziert werden, ob die Gewaltanwendung von einem Kollegen oder von Dritten ausgeht. Bei der vorsätzlichen Körperverletzung i. S. d. § 223 StGB ist neben dem Verletzten selbst unter weiteren Voraussetzungen auch der Dienstvorgesetzte berechtigt, einen Strafantrag zu stellen (§ 230 StGB). Der Arbeitgeber ist nicht nur aus seiner allgemeinen arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht, sondern auch auf Grund spezialgesetzlicher Regelungen (etwa aus § 75 Betriebsverfassungsgesetz) verpflichtet, sich schützend vor das Opfer zu stellen. Bei Gewaltanwendung unter Kollegen ist daran zu denken, dass neben oder ggf. an Stelle der Strafverfolgung die innerbetriebliche Konfliktlösung im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleichs treten kann. Dem Arbeitgeber steht gegen den Täter auch das arbeitsrechtliche Instrumentarium zur Verfügung, wobei insbesondere die verhaltensbedingte ordentliche Kündigung sowie die außerordentliche, fristlose Kündigung in Betracht kommen. Einzelfallabhängig können auch weniger einschneidende arbeitsrechtliche Maßnahmen für die Genugtuung des Opfers und zur Wiederherstellung des Betriebsfriedens ausreichend sein, wie die Abmahnung oder die Umsetzung des Täters. Keinesfalls aber darf der Arbeitgeber Gewalttätigkeiten am Arbeitsplatz tatenlos zusehen und diese tolerieren. Interveniert er nicht, kann er sich überdies selbst strafbar machen (Beihilfe, § 27 StGB, zu einem einschlägigen Straftatbestand oder dessen "Begehen durch Unterlassen", § 13 StGB). Ob die Gewaltanwendung für das Opfer als Arbeitsunfall anerkannt werden kann, ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen. Der zuständige Unfallversicherungsträger sollte jedenfalls umgehend informiert werden. Es gibt Hinweise darauf, dass die Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz deutlich schwerwiegender sind als diejenigen von anderen erfassten Arbeitsunfällen. Dies betrifft sowohl die physische Verletzungsschwere als auch die langfristigen Folgen des Ereignisses für die Opfer, etwa durch eine hierdurch ausgelöste Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) . Zu beachten ist hierbei, dass auch Zeugen eines Gewaltereignisses diese PTBS entwickeln können und dass auch eine Gewaltandrohung diese Folge haben kann. Die Symptome einer PTBS reichen von Schlaf- und Konzentrationsstörungen bis hin zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Insofern ist zeitnah nach Gewaltereignissen am Arbeitsplatz immer in geeigneter Form zu prüfen, ob Anzeichen zur Ausbildung einer PTBS vorliegen, da eine Intervention umso erfolgversprechender ist, je eher sie nach dem traumatischen Erlebnis einsetzt. Bei Personen, die selbst Opfer oder Zeuge von Gewalt am Arbeitsplatz waren, kann die Angst vor derlei Ereignissen eine erhebliche psychische Belastung sein.

Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz

Für die Prävention ist zwischen Übergriffen von außen (a) und solchen durch Kollegen oder Mitarbeiter (b) zu unterscheiden. a): Im Bank- und Einzelhandelsbereich hat sich die Strategie der Anreizminimierung und die Erhöhung der Gefahr für die Täter, gefasst zu werden, als erfolgreich erwiesen. Hierzu gehören z. B. Zeitverschlusssysteme für Bargeldbestände, Videoüberwachung und weitere Sicherungssysteme, wie sie die BGV C 9 nennt. Auch sind viele der Angestellten in diesen Risikobereichen in der Wiedererkennung und Beschreibung von Straftätern geschult. Weitere Präventionsansätze beziehen sich auf bauliche und organisatorische Maßnahmen wie die räumliche Trennung von Kunden und Beschäftigten oder die Herstellung eines Sichtkontaktes zu anderen Mitarbeitern. Die Tendenz, Mitarbeiter in gefährdeten Bereichen etwa in Selbstverteidigungstechniken zu schulen oder gar zu bewaffnen, wie dies zum Teil im Gebäude- und Personensicherungswesen üblich ist, sollte eingehend auf ihre Angemessenheit hin geprüft werden. Denn unter Umständen kann die Bereitschaft, sich auf physische Konflikte einzulassen, hierdurch gesteigert werden. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist insbesondere im Bereich der Gewaltkriminalität einen nahezu kontinuierlichen Anstieg der Delikte aus. Dieser Anstieg verzeichnet zwischen 1994 und 2002 zwei deutliche Sprünge: In den Jahren 1995 und 1996 (Welle rechtsradikaler Gewalt) sowie einen ebenfalls auffallenden Anstieg im Jahr 2002 um 4,8 %. Dieser Trend kann einerseits zurückzuführen sein auf eine zunehmende Gewaltbereitschaft, andererseits aber auch auf eine zunehmende Bereitschaft, diese Delikte zur Anzeige zu bringen. Die Indikatoren für eine zunehmende Tendenz zur Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung insgesamt sind nicht eindeutig. Fachartikel, deren Aussage eine Steigerung des Ausmaßes zum Kern haben, verwenden einhellig einen sehr viel weiter gefassten Gewaltbegriff. Indes gibt es Risikobereiche, in denen mit Gewalt am Arbeitsplatz zu rechnen ist. Hierzu zählen z. B. psychiatrische Einrichtungen, bei denen das Personal mit dem Einsatz deeskalativer Gesprächsführung nicht ausreichend geschützt werden kann, so dass Kenntnisse aus dem Bereich der Eigensicherung und Selbstverteidigung angezeigt sind. b): Für den Bereich der innerbetrieblichen Konflikte, die in Gewaltsituationen eskalieren, liegen derzeit nur wenige fundierte Berichte vor. Vermehrt finden sich in der Opferrolle alle Personengruppen, die auch außerhalb des Betriebes häufig Ziel von Diskriminierungen sind. Insofern ist die Integration von Randgruppen, Minderheiten und Neulingen in das betriebliche Sozialgefüge auch als eine Präventionsmaßnahme gegen Gewalt am Arbeitsplatz zu verstehen. Darüber hinaus ist jede Maßnahme, die auf einen konstruktiven Umgang mit Konflikten zielt (Implementierung von Konfliktmanagement und Mediatoren o. Ä.), für die Gewaltprävention geeignet.

Quellen

www.arbeit-und-gesundheit.de