Wie kann ein so bedeutsames Thema tabu sein? Ist das so? Woran machen wir das fest? Und woran würden wir merken, wenn es kein Tabu mehr ist?
Auf der Suche nach Antworten zu diesen Fragen fällt mir als Erstes die Rückmeldung eines Geschäftsführers ein, der das Employee Assistance Program (EAP), ein psychosoziales Beratungsangebot, nutzte, um sich zu privaten Problemen beraten zu lassen. Die Gespräche ließ er oft über seine Assistentin terminieren. „Sie weiß Bescheid.“ Nach wenigen Wochen meldete sich ein Mitarbeiter des Geschäftsführers aufgrund psychischer Probleme. Sein Chef habe ihm von seinen Erfahrungen mit der psychologischen Beratung erzählt und ihm empfohlen, das Angebot doch auch zu nutzen. Zumindest in diesem Unter - nehmen scheinen psychische Probleme kein Tabuthema zu sein. Dann denke ich an den Gesundheitstag in einer Behörde. Wir konnten dort das neu implementierte Angebot der psychosozialen Beratung präsentieren und Vorträge zum Gesundheitsmanagement halten. In der Eröffnungsrede wurde das Vorstellen des Beratungsangebots von der Amtsleitung mit den Worten kommentiert: „Heutzutage scheint so etwas ja notwendig zu sein. Wir sind früher bei Problemen noch zum Holzhacken in den Wald gegangen.“ Auch wenn das als Witz gemeint war, wird schnell klar, dass psychische Belastungen am Arbeitsplatz dort erst einmal ein Tabu bleiben.
1. Welche Vorbehalte gibt es?
Da, wo das Wissen über psychische Erkrankungen klein ist, können Vorurteile besonders groß werden. Vermutlich einer der wichtigsten Aspekte bei der Frage, warum ein Unternehmen auf der Skala noch nah am Tabu ist. Am besten wirkt man dem natürlich durch Information, Aufklärung und Kompetenzentwicklung entgegen. Die Vermittlung von Grund - wissen zu Arten, Ursachen und Folgen relevanter psychischer Erkrankungen räumt mit Vorurteilen auf und hilft nicht nur den Betroffenen. Es gibt daran auch ein starkes Interesse! Führungskräfte und Mitarbeitende haben vielfach einen großen Informationswunsch zu Themen wie Burnout oder Depressionen. Führungskräfte brauchen darüber hinaus natürlich auch Kompetenzen bezüglich ihrer Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden, z. B. das H-I-L-F-E-Konzept (Hin - sehen – Initiative ergreifen – Leitungsfunktion wahrnehmen – Führen – Experten hinzuziehen). Ein weiterer Grund, nicht über psychische Erkrankungen zu reden, ist die Wahrnehmung, dass die Psyche etwas sehr Privates ist. Das geht niemanden etwas an. Das ist meine Sache. Warum nicht z. B. das Thema „Prävention psychischer Erkrankungen“ in die turnusmäßig stattfindenden Unterweisungen für Mitarbeitende einbauen? Das wäre ein weiterer Schritt, um das Thema Psyche raus aus dem Privatbereich und rein in die Unternehmensfürsorge zu holen.
2. Wie gelingt es manchen Unternehmen, so offen mit dem Thema Psyche umzugehen? Oder: Woran merkt man, dass psychische Erkrankungen und Belastungen kein Tabuthema mehr sind?
Psychische Belastungsthemen genauso wie Beanspruchungsfolgen sind selbstverständlicher Teil des präventiven Gesundheitsmanagements.
„Zu einem gelingenden Gesundheitsmanagement am Arbeitsplatz gehört das Handwerk der Psychologen dazu“, sagte schon vor Jahren die Präsidentin des Bundesverbandes der Psychologinnen und Psychologen (BDP), Sabine Siegl2 . Darum sollte es Unternehmen ja hauptsächlich gehen: um die Prävention psychischer Erkrankungen. Wenn Überforderungen aufgefangen werden, bevor eine behandlungsbedürftige Erkrankung entsteht, ist das das Beste, was allen Beteiligten passieren kann. Und wenn Themen wie Ängste, Depressionen, Burn-out selbstverständliche Inhalte von Maßnahmen und Konzepten im Gesundheitsmanagement sind, ist man auf der Tabuskala einen guten Schritt Richtung Offenheit gegangen. Besonders kleine und mittlere Unternehmen brauchen dafür individuelle Konzepte. Hier muss genauer geschaut werden, welche strukturellen und personellen Ressourcen vorhanden sind, wie die Unternehmensziele aussehen und wie Führungskräfte mitgenommen werden können.
Die Führungskräfte sind sich ihrer Vorbild- funktion bewusst und „mit im Boot“.
Wenn es einer Führungskraft schwerfällt, die Grenzen ihrer (psychischen) Belastbarkeit anzuerkennen, dann transportiert sie – gewollt oder ungewollt – diese Grundhaltung weiter an die Mitarbeitenden. Wie viel schwerer fällt es, eine depressive Erschöpfung anzusprechen mit einer Führungskraft, die keinerlei Schwäche zeigt und grenzenlos belastbar scheint. Ich glaube nicht, dass ein Unternehmen das Thema Psyche aus der Tabuzone herausholen kann mit Führungskräften, die psychische Unverwundbarkeit demonstrieren3. Dabei sind Führungskräfte besonders gefährdet, einen Burn-out zu entwickeln. Oft trifft hier nämlich eine hohe Leistungsbereitschaft mit starken inneren Antreibern auf ein hohes Stress- und Belastungsniveau. Mitarbeitende beobachten sehr genau, wie ihre Vorgesetzten damit umgehen4. Und wie wunderbar es anders funktionieren kann, zeigt mein Eingangsbeispiel.
Die Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen (GB Psych) werden gewissenhaft umgesetzt und regelmäßig auf Aktualität überprüft.
Was ein starker Hinweisgeber ist, dass ein Unternehmen auf der Tabu-Skala noch zu weit Richtung Tabu steht? Die Befürchtung, mit der GB Psych „die Büchse der Pandora“ zu öffnen. Das Thema psychische Belastungen macht umso mehr Angst, je weniger Erfahrung es damit gibt. Das zeigt sich bei der GB Psych sehr deutlich und ist sicher mit ein Grund, warum viele Betriebe die gesetzliche Vorschrift zur Umsetzung nicht erfüllen. Dabei liegen viele psychische Belastungen einfach nur in unzureichend gestalteten Arbeitsplätzen und/oder schlecht organisierten Arbeits- und Kommunikationsabläufen, die mit wenig Aufwand zu verringern oder zu beheben sind5. Selbst für die ebenfalls häufig gefundenen konflikthaften Beziehungen mit Kollegen und Vorgesetzten gibt es in der Regel gute Lösungsansätze, wenn im Rahmen einer GB Psych darüber gesprochen wird. Die (verantwortungsvolle!) Umsetzung der GB Psych als Prozess mit regelmäßiger Wirksamkeits- und Aktualitätsüberprüfung hat einen deutlichen Subtext und ist damit ein klares Signal an die Beschäftigten: „Wir wissen, dass es psychische Belastungen gibt“, „Wir nehmen diese ernst“, „Wir schauen dahin“ und „Psychische Belastungen sind bei uns kein Tabuthema“
Von längerer Erkrankung betroffene Mitarbeitende fühlen sich durch das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) unterstützt und aufgefan
Nach Sozialgesetzbuch6 sind Arbeitgeber verpflichtet, jedem Arbeitnehmenden, der oder die in den letzten zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig war, ein Gespräch zur Wiedereingliederung anzubieten. Das vorrangige Ziel des BEM ist es, den Arbeitsplatz zu erhalten sowie Maß - nahmen zu finden, mit denen die Arbeitsunfähigkeit überwunden und erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt werden kann. Psychische Erkrankungen führen bekannterweise zu dreimal längeren Fehlzeiten als andere Krankheiten7 . Das bedeutet, dass psychisch erkrankte Beschäftigte häufig ein BEM angeboten bekommen. Damit die Ziele des BEM erreicht werden können, ist es wichtig, dass die Beschäftigten Vertrauen in die Umsetzung haben und psychische Erkrankungen eben kein Tabuthema sind. Im schlimmsten Fall hören Sie von Betroffenen einfach nur „Mir geht es gut“, „Alles in Ordnung, ich bin wieder gesund“, „Hatte nichts mit der Arbeit zu tun“. Klar, dass hier keine Maß - nahmen gefunden werden können, die erneuter Arbeitsunfähigkeit vorbeugen könnten. Um sinnvolle Maßnahmen im Rahmen eines BEM zu finden und umzusetzen, brauchen Sie Beschäftigte, die sich trauen, offen anzusprechen, welche Faktoren auf der Arbeit den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Auch wenn das der seit Jahren schwelende Konflikt mit der Führungskraft oder die permanente Überlastung durch zu viel Arbeit sind.
Die Beschäftigten haben Zugang zu einem anonymen, niederschwelligen Beratungsang
Ein weiterer Grund, warum psychische Erkrankungen oft verschwiegen werden, ist die Angst vor Repressalien. Vor einiger Zeit wurde einer meiner Kollegen von einem Unternehmen zur Umsetzung von Vorträgen zur Suchtprävention angefragt. In der Vorbereitung darauf lasen wir in der vorhandenen Dienstvereinbarung, dass gleich mit dem ersten Stufengespräch betriebliche Zusatzzuwendungen gestrichen werden. Was offenbart sich darin? Darin zeigt sich, dass dieses Unternehmen eine Abhängigkeit nicht als eine therapiebedürftige Erkrankung sieht, bei der Betroffene größtmögliche Unterstützung benötigen. Vielmehr scheint es als etwas wahrgenommen zu werden, was disziplinarisch unter Kontrolle gebracht werden kann. Ein Effekt dieser Vereinbarung wird sein, dass Betroffene alles tun werden, um ihre Probleme geheim zu halten. Als Unternehmen rutscht man damit auf unserer Skala schnell Richtung Tabuisierung. Das Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig ein frei - williges, anonymes und niedrigschwelliges Beratungsangebot ist8. Denn damit können auch Mitarbeitende abgeholt werden, die Angst vor Sanktionen o. Ä. haben und für die psychische Erkrankungen tatsächlich noch Tabuthemen sind.
Ausblick
Sicher sind viele Unternehmen noch weit entfernt von einem wirklich offenen Umgang mit psychischen Belastungen, mit Beanspruchungen oder auch psychischen Erkrankungen. All die guten Beispiele machen aber Hoffnung, und immer mehr Unternehmen nähern sich dem Thema. Und letztendlich geht es gar nicht um ein Entweder-oder. Es geht nicht um große Umwälzungen oder einschneidende kulturelle Veränderungen. Es geht um kleine Schritte in die richtige Richtung.
1 Nachzulesen unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/betriebliche-gesundheitsfoerderung/gesundheit-und- wohlbefinden-am-arbeitsplatz.html „Förderung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens am Arbeitsplatz“ Absatz ‚Prävention im Unternehmen zahlt sich aus‘
2 Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Publikationen: „So lässt sich Burnout verhindern – Psychisch gesund am Arbeitsplatz“ (5. Juli 2012)
3 Vgl. BAuA (2017): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung
4 Vgl. Kerstin Hillbrink (2019): Führungsziel Gesundheit. Zeitschrift SchulVerwaltung 11/2019
5 Julia Scharnhorst (2019): Psychische Belastungen am Arbeitsplatz vermeiden. Burnoutprävention und Förderung von Resilienz in Unternehmen. Haufe Group
6 Mit dem neunten Sozialgesetzbuch, § 167 Abs. 2 verpflichtet der Gesetzgeber jeden Arbeitgeber, unabhängig von der Beschäftigtenzahl seines Betriebes, sich aktiv um die Gesundheit der Mitarbeitenden zu kümmern, indem ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingerichtet wird.
7 BKK Gesundheitsreport 2018
8 Vgl. Sicherheitsingenieur 4/2020: EAP: Frühzeitige Unterstützung zur Hilfe und Selbsthilfe in Unternehmen. Interview mit Kerstin Hillbrink
Weitere Literaturempfehlungen: https://www.bkk-dachverband.de/publikationen/selbsthilfe-broschueren/psychisch-krank-im-job
Petra Bernatzeder (2018): Erfolgsfaktor Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Praxisleitfaden für das Management psychischer Gesundheit.
Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ralf Stegmann, Ute B. Schröder (2018): Anders Gesund – Psychische Krisen in der Arbeitswelt.
Prävention, Return-to-Work und Eingliederungsmanagement. Springer Fachmedien Wiesbaden G