Warum verhalten sich Menschen riskant?
Prof. Christoph Bördlein: Im Alltag denken wir oft, Menschen verhielten sich so, wie sie es tun, weil sie bestimmte Eigenschaften aufweisen. Menschen verhalten sich aber nicht riskant, weil sie leichtsinnig, risikofreudig und so weiter wären. Die wahren Gründe für Unfälle liegen in den Bedingungen. Menschen verhalten sich riskant, weil vorausgehende Bedingungen und die Folgen des Verhaltens dieses begünstigen: weil der Beschäftigte nicht wusste, wie er sich sicher verhalten soll, weil er es nicht konnte oder aber häufig, weil das sichere Verhalten mit einem meist nur kleinen Mehraufwand verbunden ist.
Nennen Sie uns gerne ein Beispiel …
Prof. Bördlein: Wenn ich eine Leiter benutze, um etwas aus dem Hochregal zu holen, benötige ich jetzt und auf jeden Fall mehr Zeit und ich habe auch mehr Aufwand, ich muss die Leiter tragen. Dass ich mit der Leiter sicherer bin, macht sich aber nicht so unmittelbar bemerkbar: Ich kann Tausende Male auf eine Kiste oder einen Stuhl steigen und es passiert nichts. Diese Erfahrung wiegt uns in falsche Sicherheit.
Was folgern Sie daraus?
Prof. Bördlein: Daraus folgt: Wenn wir wollen, dass Menschen sicher arbeiten, müssen wir es ihnen ermöglichen. Eine Leiter sollte beispielsweise immer verfügbar und leicht zu tragen sein – und wir müssen dafür sorgen, dass sich der Mehraufwand des sicheren Arbeitens, psychologisch gesehen, für den Beschäftigten „lohnt“.
Wie definieren Sie denn den Ansatz der verhaltensorientierten Arbeitssicherheit (Behavior Based Safety, BBS)?
Prof. Bördlein: Behavior Based Safety ist systematische Anerkennung und Wertschätzung für sicheres Arbeiten. Die Beschäftigten sollen spüren, dass der Mehraufwand, den sie für sicheres Arbeiten betreiben müssen, bemerkt wird und dass das etwas ist, was alle im Unternehmen wollen. BBS ist eine Methode, um die Sicherheitskultur im Unternehmen zu verändern, hin zu einer proaktiven positiven Arbeitssicherheit, weg von der rein reaktiven und negativen Sichtweise.
Was macht denn die proaktive Arbeitssicherheit aus?
Prof. Bördlein: Erst wenn man genau weiß, was eigentlich „sicher“ ist, kann man sich auch so verhalten. Bei-spiele für solche Definitionen sind unter anderem „Der Mitarbeiter hält sich beim Benutzen der Treppe am Handlauf fest“, aber auch „Der Mitarbeiter meldet einen Beinaheunfall über das dafür vor-gesehene System an die Arbeitssicherheit“.
Und wie können Unternehmen das sichere Verhalten nachhalten?
Prof. Bördlein: Wichtig ist es, das sichere Verhalten zu messen. Wir definieren Verhalten, damit wir es beobachten können, das heißt, wir messen, wie oft das sichere Verhalten bereits auftritt. Der Zweck von BBS besteht darin, Verhalten (durch Feedback und positive Verstärkung) zu verändern. Dies geht nur, wenn wir wissen, wie oft es tatsächlich schon auftritt. Das wird oft als heikel empfunden: Niemand lässt sich gern beobachten. Doch die Beobachtung ist Teil des Coachingprozesses: Man sieht nach, was der Beschäftigte macht, bestärkt ihn darin, was er bereits richtig macht, und hilft ihm dabei, noch besser zu werden.
Der dauerhafte Dialog in diesem Kontext ist absolut essenziell?
Prof. Bördlein: Ja! Feedback gibt es bei BBS in zwei Varianten: positives Feedback für sicheres Verhalten und konstruktives Feedback, wenn das sichere Verhalten ausbleibt. Konstruktiv bedeutet, dass man nicht nur zurückmeldet, dass das Verhalten nicht sicher war, sondern dass man mit dem Kollegen bespricht, was ihm dabei helfen könnte, in Zukunft sicherer zu arbeiten: Vielleicht konnte er sich nicht sicher verhalten, weil er es nicht wusste oder weil er nicht die nötige Ausstattung dafür hatte. Dann kann man das abstellen. War es ihm möglich, doch er hat es nicht getan, lag das vielleicht daran, dass er sich im richtigen Moment nicht daran erinnert hat. Wenn der Beschäftigte sich dann beim nächsten Mal sicher verhält, muss das bemerkt werden und er soll positives Feedback erhalten.
Aber nur mit Feedback ist es noch nicht getan, oder?
Prof. Bördlein: Das stimmt. Wichtig ist darüber hinaus das Setzen von verhaltensabhängigen spezifischen Zielen. Die Mitarbeitenden sollen wissen, wie sie ihr Verhalten verändern können, um das Ziel zu erreichen: „Wir wollen uns künftig (statt bislang nur in 20 % der Fälle) in 100 % aller Fälle am Handlauf festhalten“. Solche Ziele strebt man über Zwischenziele an, zunächst zum Beispiel 50 %, dann 70 % und so weiter.
Was passiert, wenn sich Mitarbeitende nicht an definierte Verhaltensregeln halten?
Prof. Bördlein: Bei BBS geht es nicht darum, riskantes Verhalten zu bestrafen. Bei BBS setzen wir daher vor allem auf „soziale Verstärkung“. Jede Beobachtung eines sicheren Verhaltens soll mit einer Anerkennung einhergehen. Manchmal genügt ein Nicken oder der schlichte Blickkontakt, um dem Mitarbeiter zu signalisieren „Ich habe es gesehen (dass du dich sicher verhalten hast) und ich finde das gut“. Dies muss systematisch geschehen, also nicht nach Laune des Beobachters oder nach Nasenfaktor: Egal, wer wann sich sicher verhält, ich erkenne es an. Sogenannte materielle Verstärker finden in BBS nur in Verbindung mit dieser Wertschätzung Einsatz, indem etwa der Betrieb einer Arbeitsgruppe, die ein wichtiges Ziel erreicht hat, ein Mittagessen spendiert.
Inwiefern beeinflussen Vorgesetzte die Arbeitssicherheit Ihres Teams?
Prof. Bördlein: Natürlich sollen Vorgesetzte mit gutem Beispiel vorangehen und Mitarbeitenden, die sich sicher verhalten, zurückmelden, dass sie das gut finden. Sie können das aber gar nicht in dem Umfang tun, dass ihr Feedback wesentlich zur Verhaltensänderung beiträgt. Daher setzt man bei BBS mehr auf das Kollegenfeedback. Vorgesetzte haben bei BBS eine andere Rolle: Sie sollen die Beschäftigten bei der Verhaltensänderung unterstützen. Sie tun das, indem sie Ausrüstung, Training und Arbeitszeit bereitstellen. Sie unterstützen die Beschäftigten beim Arbeiten mit BBS, indem sie nachfragen, helfen, Probleme zu lösen, Mitarbeiter an das Durchführen von Beobachtungen erinnern und so weiter. Vorgesetzte sollen definieren, wie sich ihre Unterstützung in konkretem Verhalten äußert (zum Beispiel „Mindestens dreimal am Tag einen Mitarbeiter ansprechen, der eine BBS-Beobachtung durchgeführt hat“), sie sollen erfassen, ob sie dieses unterstützende Verhalten tatsächlich zeigen, und spezifische Ziele vereinbaren, was sie wie oft tun wollen. Dabei unterstützen sich die Vorgesetzten auch gegenseitig und sie werden jeweils von der nächsthöheren Vorgesetztenebene dabei unterstützt.
Lob versus Unterweisung? Wie würden Sie den Mehrwert beschreiben?
Prof. Bördlein: Beides hat seinen Wert, je nachdem, was erforderlich ist. Wenn der Mitarbeitende nicht weiß, wie er sich sicher verhalten kann, ist die Unterweisung das Mittel der Wahl. Wenn er es dagegen schon weiß, es aber nicht zeigt, dann ist eher konstruktives und positives Feedback angezeigt. Einen Mitarbeiter, der sich nicht sicher verhält, obwohl er es prinzipiell weiß, immer wieder in Unterweisungen und Trainings zu schicken, ist nichts anderes als eine Art Bestrafung.
Wird damit nicht auch die Verantwortung für Arbeitssicherheit auf die Mitarbeitenden geschoben?
Prof. Bördlein: Nein, BBS muss sowohl „Bottom-Up“ von den Mitarbeitern als auch „Topdown“ von der Leitung aus gedacht und gelebt werden. Die finale Motivation für die Mitarbeiter resultiert aus dem besseren Umgang mit dem Thema Arbeitssicherheit, der größeren Autonomie, die sie im BBS-System haben, und natürlich der größeren Sicherheit. Für die Leitung ist der Motivator ebenfalls die größere Sicherheit. Diese kann man bei BBS langfristig an der Zahl der Arbeitsunfälle ablesen, die in gut funktionierenden Systemen um noch einmal 50 bis 80 % abnehmen, wie viele Studien zeigen.
Welche Ansätze liefert BBS für die Herausforderungen der Zukunft der Arbeit?
Prof. Bördlein: BBS muss an die Bedingungen im Betrieb an-gepasst werden. Grundlage dafür ist ein verhaltensorientiertes Sicherheitsassessment, bei dem die für sicheres Verhalten förderlichen und hinderlichen Faktoren im Unternehmen identifiziert werden. BBS hat sich, seit es in den 1970er-Jahren erstmals er-probt wurde, weiterentwickelt und an die sich verändernde Arbeitswelt angepasst.
Stark hierarchische Systeme – die Beschäftigten werden von Vorgesetzten oder Spezialisten beobachtet, bekommen Feedback und Anreize für sicheres Verhalten – weichen immer mehr den mitarbeitergetragenen BBS-Systemen. Je mehr die Beschäftigten in die BBS-Prozesse – die Planung des BBS-Systems, das Definieren des sicheren Verhaltens, das Setzen von Zielen und so weiter – einbezogen werden, desto nachhaltiger sind die Erfolge.