"Niemand kann extreme Workloads wegmeditieren"

Psychische Gesundheit

Als strategische Beraterin, Psychotherapeutin und Expertin für mentale Gesundheit beschäftigt Nora Dietrich vor allem eine Frage: Was brauchen Menschen, um ihren Job bestmöglich zu machen und dabei trotzdem gesund zu bleiben? 

 Frau Dietrich, was bedeutet New Work für Sie?

 Nora Dietrich: Für mich bedeutet es, nach den eigenen Stärken, sinnstiftenden Ideen und den persönlichen Talenten zu arbeiten, und dabei regenerativ zu denken.


 Wieso geht New Work dann oft auf die Gesundheit? 

 Dietrich: Arbeit, wie wir sie heute kennen, funktioniert nicht mehr richtig. Wir fühlen uns unverbunden, unkreativ und sinnlos. Gesellschaftlich sind wir an einem Höhepunkt von Stress- und Burn-out-Erscheinungen angelangt. Wir brauchen eine Revolution in der Arbeitswelt. Denn in der „alten Arbeitswelt“ galt: Leistung vor Menschlichkeit. Das ist nicht mehr tragfähig. Mir geht es um die Frage, wie sich der vermeintliche Widerspruch zwischen Menschlichkeit und Leistung auflösen lässt. New Work versucht, genau darauf Antworten zu finden. Wenn wir für unsere Arbeit hochinnovativ sein möchten, dann ist die mentale Gesundheit das Fundament dafür. Davon bin ich überzeugt. New Work ist zwar nicht neu, heute aber relevanter denn je. Denn es wurde in den 1970er- Jahren aus der Krise heraus geboren. Und heute befinden wir uns in einer Dauerkrise …


 ... die mit der Corona-Pandemie begann?  

 Dietrich: Das stimmt. In den vergangenen zwei bis drei Jahren haben die meisten Menschen festgestellt, dass sie sich mit ihrer Tätigkeit sinnlos fühlen, dass sie ihre Kreativität nicht richtig nutzen können. Sie fühlen sich emotional mit ihrem Arbeitgeber nicht verbunden.


Warum, glauben Sie, ist das so?

  Dietrich:  Es geht zum einen um Zugehörigkeit, um das Gefühl, ich selbst zu sein, statt jemand, der ich glaube, sein zu müssen. Mehr als 64 Prozent der Mitarbeitenden sagen, dass sie eine Maske im Job tragen. Sie vermeiden es, ihre Identitätsfacetten nach außen zu zeigen. Und dazu gehört eben auch die mentale Gesundheit. Darüber zu sprechen, wie es einem wirklich geht, zu sagen, dass man vielleicht eine psychische Erkrankung hat, die den Job beeinträchtigen könnte: Macht man das? Im Moment trauen sich das viele nicht. Dies führt dazu, dass Menschen nur ein Stück weit sie selbst sind. Sie sind im Schauspielmodus, dadurch fehlt ihnen die Verbindung und es kostet sie Energie.  

Zum anderen kommt es darauf an, ob sich die eigenen Werte und die des Unternehmens überschneiden. Handeln wir so, wie wir es sagen? Stehen hinter der vermeintlichen Haltung auch echte Handlungen im Alltag? Wenn das nicht der Fall ist, entsteht Reibung, die uns zur Distanz drängt.  

Ein dritter Faktor ist das hybride Arbeiten. Viele Unternehmen haben gehofft, ihre Kultur einfach so erhalten zu können, und es versäumt, in zwischenmenschliche Beziehungen zu investieren. Niemand soll sich isolieren oder einsam fühlen. In Organisationen sind wir Teil eines Netzwerks. Es ist sozusagen unser soziales Kapital. Online lässt sich dieses Netzwerk nur sehr schwer fördern. Das sagt auch die Forschung. Unsere Netzwerke schrumpfen, wenn wir nur mit den Menschen sprechen, mit denen wir sprechen müssen. Wer viel im Homeoffice arbeitet, hat nur wenige spontane Begegnungen, stolpert kaum zufällig in ein Gespräch hinein. Wie wir all das digital abbilden können, dafür gibt es noch keine perfekte Lösung.


 Wie können Unternehmen es dennoch schaffen, eine gesunde Kultur zu gestalten? 

  Dietrich: Mit gutem Kapazitätsmanagement. Das heißt, zu wissen, wie belastet meine Mitarbeitenden sind. Eine zu hohe Arbeitsbelastung und unrealistische Deadlines sind zwei der größten Treiber für eine Burn-out-Kultur. Weil alle ihren Aufgaben hinterherhecheln und es nicht schaffen, ihre To-do-Liste abzuarbeiten. Wir können dann die Leistung nicht mehr erbringen, die wir eigentlich von uns erwarten.

Ein zweiter Aspekt ist die emotionale Kultur. Es muss Raum für Emotionen geben. Welche Stimmungen sind fühlbar und auch ausdrücklich erlaubt, welche nicht? Wut oder Ängste, aber auch Freude oder Stolz sind teils schambehaftet. Dabei ist es wichtig, Emotionen zu leben. Wir können sie als Informationsquelle nutzen, daraus Signale ablesen und Wissen erlangen. Sie sind Beziehungsmacher. 


 Welche Rolle spielen Führungskräfte?   

  Dietrich: Gerade schwappt die „Vulnerable Leadership“-Welle zu uns rüber. Dabei geht es darum, dass Führungskräfte auch Verletzlichkeit zeigen oder zwischenmenschliche Risiken eingehen dürfen. Es geht aber auch darum, Führungskräfte bestmöglich zu unterstützen im Umgang mit ihren Teams.  

Mitarbeitende sehen in ihrer Führungskraft im besten Fall eine Person, die empathisch ist und versteht, was sie brauchen, um ihren Job bestmöglich zu machen. Jemand, mit dem sie auch über vermeintliche Schwächen sprechen dürfen. Führungskräfte sind Wegbereitende, aber auch Puffer nach oben. Es ist ihre Verantwortung, für ein Team einzustehen und Grenzen zu ziehen, bevor es zu Überlastungen kommt. 


 Darum brauchen Führungskräfte spezielle Unterstützung?

  Dietrich: Genau. Die meisten, etwa drei Viertel der Manager:innen, wünschen sich das auch. Die Frage ist, ob sie die nötige Kapazität haben. Gerade Führungskräfte in Unternehmen mit mehreren Hierarchieebenen befinden sich häufig in einer Sandwich-Position: Sie haben nur bedingt Raum, Entscheidungen zu treffen. Oft fehlen der fachlichen Leitung die Kompetenzen in der Mitarbeitendenführung. Mental Health ist zudem unbekanntes Terrain. Ich denke deshalb, es fehlt an Wissen und an Fähigkeiten, nicht an Intention.

Hinzu kommt, dass Führungskräfte selbst extrem überlastet sind. Die Stresszahlen sind sogar höher als bei Mitarbeitenden. Das hat einen Effekt: emotionale Ansteckung. Stress wird weitergegeben. Nur etwa jede zweite Führungskraft kommt ihrer Verantwortung im Alltag nach. Dazu gehört es beispielsweise, regelmäßig bei den Mitarbeitenden nachzuhören, wie es ihnen geht: Das machen nur etwa 54 Prozent. Noch weniger Führungskräfte stellen sicher, dass Pausen eingehalten werden. Und nur 37 Prozent der Leader:innen motivieren ihre Mitarbeitenden dazu, Angebote wie das EAP wahrzunehmen. Oft auch, weil sie gar nicht wissen, dass es so etwas gibt. Oder sie nutzen es selbst nicht und kennen den Mehrwert nicht. 

Ein weiterer Punkt: Nur 20 Prozent der Führungskräfte sind ein gutes Vorbild für gesunde Verhaltensweisen. Wer selbst nach 23 Uhr noch E-Mails verschickt, aber den Mitarbeitenden sagt, um 18 Uhr ist Feierabend, verhält sich ambivalent. Die Forschung zeigt, dass Führungskräfte einen deutlich höheren Einfluss auf unsere mentale Gesundheit haben als Therapeut:innen. Genau deswegen glaube ich, dass wir Menschen in Führungsrollen besser unterstützen müssen. 


 Wo also anfangen? Bei den Führungskräften? 

  Dietrich: Zum Beispiel. Gerade sehen wir, dass Unternehmen beginnen, sich um eine „Wellbeing-Kultur“ zu bemühen. Das heißt, sie bieten Trainings zum Stressmanagement an oder machen einen „Awareness-Day“. Damit senden sie wichtige Signale. Als nächste Maßnahme kommt dann häufig das Employee Assistance Program, kurz EAP. Das ist eine extrem wertvolle Ressource, weil es damit gelingt, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sich Menschen anonym im Eins zu eins austauschen können.  

Aber dann sollte die nächste Stufe kommen. Auf dieser Ebene geht es darum, den strukturellen Wandel innerhalb der Organisation voranzutreiben, um Gesundheit gezielt zu fördern. Niemand kann extreme Workloads wegmeditieren. Das funktioniert nicht. Unternehmen müssen auch ihre Strukturen verändern. So weit sind viele aber noch nicht. Darum bleibt die Hemmschwelle, das EAP zu nutzen, hoch.  


 Wie lässt sich das ändern? 

  Dietrich: Da gibt es drei wichtige Hebel. Der erste ist Aufklärung. Es muss erklärt werden, was das EAP ist, was es leisten kann und dass es einen vertrauensvollen und sicheren Raum eröffnet. Zweitens muss das EAP kulturell verankert und nicht nur extern angedockt sein. Benefits müssen glaubwürdig sein. Das bedeutet, dass sich das Unternehmen auch darüber hinaus für eine gesundheitsfördernde Kultur engagiert. Drittens muss es Vorbilder geben, die dies vorleben.


 Womit wir wieder bei den Führungskräften sind.   

  Dietrich: Exakt. Häufig ist es so, dass das C-Level das EAP gar nicht wahrnimmt. Wenn hochrangige Manager:innen dies aber tun, steigert das zum einen die Glaubwürdigkeit, zum anderen erkennen sie selbst den Mehrwert der Beratung.


 Wenn diese drei Hürden genommen sind, ist ein Unternehmen dann gesünder? 

  Dietrich: Mental Health ist eine Fähigkeit, die wir kontinuierlich trainieren müssen. Wir müssen dazu auch im Gespräch bleiben, weil sich die Bedürfnisse von Mitarbeitenden immer weiterentwickeln. Das heißt, es funktioniert nicht, das EAP zu implementieren und damit das Thema Mental Health abzuhaken. Es ist ein fortlaufender Prozess, genau wie Kultur.

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