Prof. Dr. med. Hans-Christian Jabusch ist Leiter des Instituts für Musikermedizin (IMM) an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und zugleich Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin. Seine klinische Forschungsschwerpunkte bilden die Pathophysiologie, Diagnostik, Therapie und Prävention spielbedingter Gesundheitsstörungen bei Musikern.
Im Interview spricht er über die heutigen Herausforderungen von Musikern, dem gewaltigen Druck, der auf Musikern lastet und die tückische fokale Dystonie. „Diese Störung kann Musiker in ihren Grundfesten erschüttern“, sagt Prof. Dr. Jabusch. Bei 29 Prozent der Betroffenen bedeute sie das Aus der Musikerkarriere. Obwohl die heutigen Behandlungsoptionen in vielen Fällen hilfreich sind, ist die Suche nach neuen Therapieverfahren laut Jabusch von zentraler Bedeutung, ebenso eine Verbesserung der Prävention.
Welchen Herausforderungen sehen sich heute Orchester- und Instrumentalmusiker gegenüber?
Professor Dr. Hans-Christian Jabusch: Die Herausforderungen für professionelle Musiker sind zahlreich und enorm. Professionelles Musizieren gehört zu den anspruchsvollsten Leistungen überhaupt. Musiker müssen z.B. hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Dimension höchst präzise Bewegungen ausführen, und das über einen langen Zeitraum während der Aufführung. Je nach Instrument liegt die erforderliche Präzision teilweise im Submillimeter- und Millisekundenbereich. Die Bewegungen sind zudem überaus komplex. Musiker kommen damit an die Grenze der physiologischen Leistungsfähigkeit.
Geben Sie uns einmal ein Beispiel hierfür…
Jabusch: Beim Dartsport etwa kommt es beim Wurf des Pfeils auch auf höchste Präzision an. Es handelt sich dabei aber nur um einen kurzen Moment. Musiker im Symphonieorchester hingegen müssen diese Präzision über Stunden zu jedem Zeitpunkt realisieren. Dabei ist jeder Einsatz zeitkritisch und wird vom Dirigenten vorgegeben, während der Dartspieler den Moment seines Wurfs - in Grenzen - selbst bestimmen kann.
Welche Herausforderungen gibt es noch?
Jabusch: Der Musiker selbst, aber auch das Publikum verfügt über eine sehr genau arbeitende Kontrollinstanz: das Gehör. Ein Misston, eine intonatorische Schwäche – z.B. in einer solistischen Passage - tritt offen zutage und wird vom Ausführenden wie auch vom Zuhörer wahrgenommen. Hier ist der Musiker zudem einem strengen gesellschaftlichen Belohnungs- und Bestrafungssystem ausgesetzt: Misslingt ein Konzert in prominentem Rahmen, kann dies empfindliche Folgen für die berufliche Laufbahn haben. Ein gelungenes Probespiel hingegen kann sich andererseits günstig auf den gesamten weiteren Verlauf des Berufslebens auswirken.
Weitere vielfältige Herausforderungen können durch die besondere Situation im jeweiligen Ensemble bedingt sein – sei es im psychosozialen Bereich, sei es bedingt durch Reisetätigkeiten oder aufgrund der Folgen eines wirtschaftlichen Druckes oder anderer Belastungen.
Bei der fokalen Dystonie steht ein Verlust der feinmotorischen Kontrolle der vorhin genannten Notwendigkeit höchster feinmotorischer Präzision gegenüber – eine durchaus tückische Erkrankung…
Jabusch: Ja, das stimmt! Die fokale Dystonie der Musiker ist eine neurologische Bewegungsstörung, bei der unwillkürliche Fehlbewegungen auftreten. Musiker aller Instrumentenfamilien können betroffen sein. So kann es beispielsweise bei Pianisten oder an der linken Hand der Streicher zum Einrollen einzelner Finger kommen oder bei Bläsern der Ansatz gestört sein. Über Jahrzehnte gelernte Bewegungsabläufe sind dann nicht mehr umsetzbar. Dies wiederum führt zu Defiziten im musikalischen Ergebnis, was die betroffenen Musiker oft als ihr eigenes Übedefizit interpretieren. Vermehrtes Üben führt dann aber nicht zu einer Verbesserung der Situation.
Wer und wie viele Musiker sind von der fokalen Dystonie betroffen?
Jabusch: Ganz überwiegend sind Berufsmusiker betroffen, d.h. diejenigen Musiker, die sich über viele Jahre und viele Stunden täglich mit ihren Instrumenten befasst haben. Schätzungen zufolge leiden ein Prozent der Berufsmusiker an einer Dystonie. Als Risikofaktor gilt u.a. die räumliche und zeitliche Präzision wie auch die Komplexität der Bewegungen. So ist bei Gitarristen, deren Zupfbewegungen mit den Fingern der rechten Hand ja räumlich besonders genau ausgeführt werden müssen, die rechte Hand häufiger betroffen als die linke.
Bei einer Untergruppe der Patienten findet man eine Neigung zu Angst und Perfektionismus, so dass eine derartige psychologische Konstellation ebenfalls als Risikofaktor gilt. Auch Schmerzen, Überlastungsverletzungen oder Nervenkompressionssyndrome in der unmittelbaren Vorgeschichte vor dem ersten Auftreten der Dystonie gelten als mögliche Auslöser. Ein solcher Zusammenhang wurde immerhin bei neun Prozent der Musiker mit Dystonie beobachtet.
Wie kann den betroffenen Musikern geholfen werden?
Jabusch: Die fokale Dystonie ist eine der großen Herausforderungen in der Musikermedizin. Sie ist nicht einfach zu behandeln, und der Krankheitsmechanismus ist bislang nur zum Teil verstanden. Seit den 80er-Jahren existieren fundierte und umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu den mit der Dystonie einhergehenden Vorgängen im zentralen und peripheren Nervensystem. Die eigentliche Ursache jedoch kennen wir noch nicht.
Die Behandlungsmöglichkeiten schließen Retrainingsverfahren und ergonomische Maßnahmen ein, außerdem medikamentöse Therapien und auch Injektionsbehandlungen mit Botulinumtoxin. Obwohl eine Rückkehr zur normalen Bewegungskontrolle selten ist, können 71 Prozent der Betroffenen langfristig im Beruf bleiben. Viele Patienten lernen im Laufe der Zeit, mit der Dystonie umzugehen, beispielsweise ein bestimmtes Repertoire zu bevorzugen, bei dem sie vergleichsweise wenig beeinträchtigt sind und das sie trotz der Störung gut realisieren können.
Was passiert mit denjenigen, die ihren Beruf aufgeben müssen?
Jabusch: Musiker beginnen in der Regel ihre Ausbildung in der Kindheit und identifizieren sich daher stark mit dem Musizieren. Man kann es so formulieren: Musizieren ist kein Beruf, sondern eine Lebensform. Aufgabe des Berufs ist daher für einen Musiker mit großem Leidensdruck verbunden.
Erschwerend kommt hinzu, dass das mittlere Alter beim ersten Auftreten der Musikerdystonie bei 34 Jahren liegt. In dem Alter ist das Musikstudium bereits abgeschlossen, und es ist nicht mehr so leicht, einen anderen Beruf zu erlernen, als dies vielleicht mit 20 Jahren noch möglich gewesen wäre. Hier sind wir in den Ambulanzen gefordert, die Patienten zu begleiten und mit ihnen gemeinsam herauszufinden, welche Vorgehensweise im Einzelfall die beste ist – bis hin zum Aufbau eines zweiten beruflichen Standbeins, sofern dies erforderlich werden sollte.
Gibt es Möglichkeiten der Prävention?
Jabusch: Ein Teil der bekannten Risikofaktoren sind im Sinne einer Prävention beeinflussbar. Da neun Prozent der Musikerdystonien in der unmittelbaren Folge von Schmerzen, Überlastungsverletzungen oder Nervenkompressionssyndromen auftreten, gelten letztere als vermeidbare Risikofaktoren. Hier setzt eine wirksame Prävention bereits in der ersten Unterrichtsstunde an. Frühzeitig sollte eine günstige Spielhaltung und –technik vermittelt werden, ebenso eine Form des Übens, die effizient und wenig belastend ist.
Hierzu gehören regelmäßige Pausen beim Üben, eine realistische Zielsetzung, mentale Übeformen und ein konstruktiver Umgang mit Fehlern. Auch die Freude am Üben sollten wir immer wieder ganz bewusst in den Vordergrund stellen. Die Prävention setzt sich fort an den Musikhochschulen, wo die Fächer Musikphysiologie bzw. Musikergesundheit in theoretischen und praktischen Angeboten vermittelt werden. Letztere schließen köperorientierte Lehren und Techniken wie die Feldenkrais-Methode, Alexandertechnik, Dispokinesis und andere ein, ebenso beispielsweise ein Auftrittscoaching für Studierende, die an Auftrittsängsten leiden.
Die Musikerdystonie hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Was würden Sie sich wünschen, wenn Sie hier drei Wünsche frei hätten?
Jabusch: Der erste Wunsch, den alle in die Behandlung und Betreuung von Musikern mit Dystonie Eingebundenen wie auch die Patienten hatten, wurde letztes Jahr erfüllt: Die Anerkennung der fokalen Dystonie als Berufskrankheit mit allen positiven Effekten war für die Branche ein sehr großer und wichtiger Schritt.
Wünschenswert wäre außerdem ein deutlich geringerer wirtschaftlicher Druck auf den Musikern und Ensembles. Und schließlich sollten wir uns - insbesondere auch als Konzertgänger und Zuhörer - von dem auf vielen Ebenen bestehenden Perfektionismus verabschieden und eine menschenfreundlichere Sichtweise einnehmen. Das ‚Höher, schneller, weiter‘, das wir auch im Musikbetrieb beobachten, bringt Musiker mitunter an die Grenzen des Machbaren – und darüber hinaus. Davor wollen wir sie bewahren.
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